Geschichte: Was ist Geschichte?

Geschichte: Was ist Geschichte?
Geschichte: Was ist Geschichte?
 
Die Entwicklung des Begriffes »Geschichte« seit der beginnenden Neuzeit ist durch eine zunehmende Bedeutungsausweitung gekennzeichnet und spiegelt zugleich den Prozess der Verwissenschaftlichung wider. Abgeleitet von althochdeutsch scehan = geschehen, meint das Wort »gisciht«, »geschiht« (als Singular Neutrum; dann Plural: »die geschihte«, daraus Femininbildung) ursprünglich »Ereignis«, »Begebenheit«, auch »Tat«, »Werk«. Neben der deutschen Wortprägung aber existiert auch das vom lateinischen »historia« hergeleitete Lehnwort »Historie«. Die Klärung des Verhältnisses beider Begriffe zueinander ist ein Teil jener Reflexion, deren Ergebnis das wissenschaftliche Verständnis von Geschichte darstellt. Dass der Begriff zunächst und auf lange Zeit in der Pluralform verwandt wurde, lässt eine Geschichtsauffassung erkennen, die sich von der Summierung von Einzelgeschichten her bestimmte. Erst als sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Kollektivsingular »die Geschichte« durchzusetzen begann, gewann der Begriff seine umfassende Bedeutung im Sinne der Gesamtheit des von Menschen in der Vergangenheit bestimmten und erlittenen Geschehens als einer objektiven Gegebenheit. Der Begriff »Geschichtswissenschaft« ist zum ersten Mal 1752 von Johann Martin Chladenius verwandt worden und kennzeichnete diese als eigenständige Wissenschaft, die sich nun von Rhetorik und Jurisprudenz emanzipierte. Die ursprünglich vorhandene — freilich auch nicht konsequent durchgehaltene — Unterscheidung von Geschichte gleich objektives Geschehen und Historie gleich Erzählung, Darstellung vergangenen Geschehens war inzwischen weitgehend aufgegeben; beide Begriffe wurden austauschbar, wobei allerdings das Wort »Historie« mehr und mehr verdrängt wurde. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert umfasst also in unserem Sprachgebrauch der Begriff »Geschichte« sowohl das Geschehen selbst als auch seine Darstellung und die mit dieser Wirklichkeit und den Problemen ihrer Erforschung befasste Wissenschaft. Hegel definierte: »Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl und subjektive Seite und bedeutet ebensowohl die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst, die eigentliche unterschiedene Geschichtserzählung als das Geschehen, die Taten und Begebenheiten selbst« (Die Vernunft in der Geschichte, 51955, 164).
 
 Der Beginn der Geschichtsschreibung in der Antike
 
Die Geschichte des Begriffs reicht ins 5.vorchristliche Jahrhundert zurück. Bei Herodot (um 484—425 v. Chr.), dem von Cicero so apostrophierten »Vater der Geschichtsschreibung«, bezeichnet das Wort »historein« (historie) sowohl das Forschen als auch das Wissen und das Berichten darüber und umfasst thematisch vergangenes Geschehen ebenso wie geographische und ethnographische Zusammenhänge, was etwa mit Völkerkunde umschrieben werden kann. Die Wahrheitsermittlung ist dabei auf Zeugen angewiesen, der Spielraum von Forschen und Wissen bleibt daher auf zwei oder drei Generationen beschränkt. Herodot fragt nach den Ursachen der Perserkriege, er sucht nach Erklärungen für das komplexe Geschehen. Dass er damit den Anstoß für die Entstehung einer neuen Form der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gegeben hat, ist ihm selbst wohl nicht bewusst geworden.
 
Besondere Bedeutung für die Entwicklung des abendländischen Geschichtsdenkens hat Thukydides (um 460—400 v. Chr.) gewonnen. Während Herodot noch die ganze Vielfalt der Erscheinungen, Geschehnisse und menschlichen Handlungen in den Blick zu nehmen versuchte, beschränkt sich der Historiograph des Peloponnesischen Krieges (431—404 v. Chr.) auf das politisch-militärische Geschehen dieses Konflikts. Die Ereignisgeschichte steht im Vordergrund; gefragt wird nach dem Nutzen, den die Beschäftigung mit ihr dem Einzelnen für das politische Handeln verschafft. Einen besonderen Begriff für seine Darstellungsweise hat Thukydides nicht. Das Wort »historia« verwendet er nicht, als literarischer Gattungsbegriff im Sinne von Geschichtsschreibung findet es sich erst bei Aristoteles. Geschichte ist hier aufgesplittert auf eine Vielheit von Ereignisabläufen und politischen Gebilden; die Geschichtsauffassung ist notwendig »multisubjektiv« (Christian Meier).
 
Anders war die Situation in Rom. Das historische Interesse war auf Rom konzentriert, die übrige Welt wurde in die Geschichtsbetrachtung lediglich in dem Maße und Umfang einbezogen, wie sie zu den Römern in Beziehung trat. Roms Größe darzustellen und Roms Herrschaft zu legitimieren war die eigentliche Aufgabe des Historikers. Die »historia« liefert die Beispiele (exempla) für die Leistungen und Tugenden der römischen Feldherren und Staatsmänner und erweist damit ihren erzieherischen Wert und Nutzen als Anleitung für das richtige politische Handeln. Der Begriff selbst umfasst das Geschehen wie seine Darstellung. Als ihre Funktion hat Cicero definiert, dass sie Zeugnis gibt von den Zeiten, Licht der Wahrheit und lebendiges Gedächtnis, Lehrmeisterin des Lebens ist und von der Vergangenheit Kunde überliefert (De oratore 2, 36); er hat damit eine Wesensbestimmung gegeben, die das abendländische Geschichtsdenken auf Jahrhunderte geprägt hat.
 
 Geschichtsdenken im Mittelalter
 
Das Mittelalter hat den griechisch-römischen Historia-Begriff wie überhaupt das antike Wissenschaftssystem übernommen. Die Geschichte war nicht eine selbstständige Disziplin im Lehr- und Wissenschaftsbetrieb, sondern in bestimmter Weise den »freien Künsten« (artes liberales), und zwar innerhalb des Triviums der Grammatik und der Rhetorik, zugeordnet. Beide Disziplinen bedienen sich ihrer; zugleich aber wird über diese »artes« historische Bildung vermittelt. Wichtig ist der Bezug zur Wahrheit; dass der mittelalterliche Geschichtsschreiber zur Darstellung der Wahrheit verpflichtet ist, wird als Forderung immer wieder artikuliert.
 
Die Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens ist jedoch nicht Selbstzweck. Johannes von Salisbury (um 1115/20—1180) formuliert in seiner Kirchen- und Papstgeschichte als Aufgabe und Zielsetzung der Geschichtsschreiber, den Menschen Beispiele für Belohnung und Bestrafung vor Augen zu führen, sie auf diese Weise in der Furcht Gottes und der Pflege der Gerechtigkeit zu bestärken und letztlich auch etwas von den Plänen und dem Wirken Gottes begreifen zu lassen. Der bedeutendste Geschichtsschreiber des hohen Mittelalters, der Bischof Otto von Freising (✝ 1158), wollte die Unbeständigkeit alles Irdischen und die Erbärmlichkeit alles Vergänglichen aufweisen, um sein Publikum durch vernünftige Überlegung dahin zu bringen, nach dem Frieden des Reiches Christi und der ewigen Seligkeit zu streben. In diesem Sinne kann die Geschichte auch wiederum als Lehrmeisterin des Lebens verstanden werden.
 
Sie steht aber auch im Dienste der Exegese; denn für die Auslegung der Texte der Heiligen Schrift ist die Erschließung des buchstäblichen oder historischen Sinnes eine wesentliche methodische Forderung und eine Voraussetzung für die geistliche Deutung. Aus der Auffassung, dass alle Geschichte Heilsgeschichte ist, folgt schließlich auch, dass sie als Bestandteil und Aspekt der Theologie verstanden wird. Dass Gott als der Herr der Geschichte gesehen wird, bringt der Titel der Kreuzzugsgeschichte des Abtes Guibert von Nogent (✝um 1125) sehr schön zum Ausdruck: »Gesta Dei per Francos« — der Kreuzzug erscheint als das Unternehmen Gottes, der sich der Franken/Franzosen als seines Werkzeugs bedient.
 
Die mittelalterliche Geschichtstheologie ist entscheidend — freilich nicht ausschließlich — von Augustinus (354—430) und seinem gewaltigen Werk »Über den Gottesstaat« (De civitate Dei) bestimmt worden. Darin wird die Weltgeschichte umfassend gedeutet und als der ständige Kampf zwischen Gottesstaat und Welt-/Teufelsstaat (civitas terrena/diaboli) interpretiert. Die beiden »civitates« sind dabei nicht einfach gleichzusetzen mit Kirche und irdischen Staaten, sondern sie sind eher spirituelle Gemeinschaften, deren endgültige Scheidung erst im Endgericht erfolgt. Die Geschichte der Menschheit verläuft in Richtung auf die Wiederkunft Christi und das Jüngste Gericht. Dazu gehören auch die Vorstellungen von der Herrschaft des Antichrist, vom Einfall der eschatologischen Völker Gog und Magog sowie vom Endkaiser und seiner Herrschaft in Jerusalem. In den politischen Auseinandersetzungen konnten die eschatologischen Figuren sogar propagandistisch mit zeitgenössischen Personen gleichgesetzt werden — so etwa der Staufer Friedrich II. in der päpstlich-kurialen Agitation mit dem Antichrist —, aber bereits Augustinus hatte sich jegliche Spekulation über die Dauer des mit der Geburt Christi beginnenden letzten Weltalters versagt und damit eine scharfe prinzipielle Trennung von Geschichtsschreibung und Eschatologie vollzogen.
 
Mit der Chronik des Eusebius von Caesarea (ca. 264—340), die in der — bis zum Jahre 378 weitergeführten — lateinischen Übersetzung des Hieronymus (ca. 347/348—420) zur Grundlage der mittelalterlichen Weltchronistik geworden ist, tritt uns die frühe christliche Geschichtsschreibung zum ersten Mal in ihrer Zielsetzung klar erkennbar entgegen. Unter heilsgeschichtlichem Aspekt kommt der jüdischen Geschichte als Voraussetzung der christlichen vor der Geschichte der anderen antiken Völker der Vorrang zu. Daher ist die profane Geschichte zur jüdisch-christlichen in Beziehung zu setzen, sind die chronologischen Zusammenhänge zu klären. Im zweiten Buch seiner Chronik bringt Eusebius in Form von Zeittafeln den synchronistischen Kanon, der also z. B. die auf der Abfolge von Dynastien oder auch anderen Ären (etwa Olympiaden) beruhende Zeitrechnung einzelner Völker zueinander und zur jüdischen in Beziehung setzt und dabei die wichtigsten Tatsachen der jüdisch-christlichen neben bemerkenswerten Ereignissen der profanen Geschichte aufzeichnet. Er setzt ein mit der Geburt Abrahams, für die er als Termin das Jahr 2016 v. Chr. errechnet; die späteren Weltchroniken beginnen mit der Erschaffung der Welt, für die auf der Grundlage der im Alten Testament mit genauen Zahlenangaben — wenn auch z. T. in widerspruchsvoller Überlieferung — aufgezeichneten Generationenfolgen ein fiktives Datum erschlossen wird.
 
Darüber hinaus standen die Geschichtsschreiber vor dem grundsätzlichen Problem der Periodisierung, d. h. der sinnvollen Gliederung des Geschichtsablaufs. Aus der frühen Tradition der Kirchenväter wurde — mit weit reichenden Konsequenzen — die Einteilung der Weltgeschichte in sechs Weltalter übernommen, die zu den sechs Schöpfungstagen in Beziehung gesetzt werden konnten. Wenn man entsprechend Psalm 89, 4 und 2.Petrus 3, 8, wonach 1000 Jahre vor Gott wie ein Tag sind, die Weltwoche mit 6000 Jahren ansetzte, war die Wiederkunft Christi je nach Berechnung des Schöpfungstages um 500 oder um 1000 zu erwarten.
 
Großen Einfluss hat auch der Angelsachse Beda Venerabilis (✝ 735) mit seiner Chronik und seinen chronologischen Lehrbüchern auf die mittelalterliche Historiographie ausgeübt: Er hat als Erster die Zählung nach Jahren seit Christi Geburt (Inkarnationsjahre) verwandt, wie sie im Jahre 525 von dem in Rom lebenden Mönch Dionysius Exiguus errechnet worden war.
 
Besondere Bedeutung aber hat als Periodisierungsprinzip die Vorstellung von der Aufeinanderfolge der vier Weltreiche gewonnen, die das Geschichtsdenken des Mittelalters entscheidend prägte. Sie beruhte auf dem Traum des Nebukadnezar — ein Bild mit goldenem Haupt, silberner Brust, erzenen Lenden, eisernen Schenkeln und Füßen teils aus Eisen, teils aus Ton wird durch einen Stein zermalmt — und bezog die Deutung, die Daniel diesem Traum gegeben hatte (vergleiche Buch Daniel), auf die einander ablösenden Weltreiche der Assyrer/Babylonier, Meder/Perser, Makedonen und Römer. Durch den Danielkommentar des Hieronymus war diese Auffassung Allgemeingut geworden. Sie barg weitgehende politische Konsequenzen in sich, insofern das Römerreich das letzte der Weltgeschichte sein sollte und sein Untergang demnach das Ende der Zeiten bedeuten musste. Zwangsläufig wurde damit die Frage nach der Kontinuität der folgenden Reiche — des Frankenreichs und des hochmittelalterlichen Kaisertums — zum Imperium Romanum aufgeworfen. Für den aus Spanien stammenden Orosius (Historia contra paganos, 417/418) mündete die Weltgeschichte ein in das christliche Römerreich, das die gesamte Ökumene umfasste und somit eine heilsgeschichtliche Funktion übernahm. Orosius hat mit seinem Werk die mittelalterliche Geschichtsschreibung womöglich noch stärker beeinflusst als Augustinus. Nach der Translationstheorie war das Reich von den Römern über Byzanz und die Franken auf die Deutschen übergegangen; erst das ausgehende 13. und das 14. Jahrhundert haben in Weiterführung staufischer Traditionen und gestützt auf einen bewussten Reichspatriotismus eine eigentliche, systematische Reichstheorie hervorgebracht. Das Reich stellte auch jetzt noch eine politisch-ideelle, in mancher Hinsicht sogar heilsgeschichtliche Realität dar, und von Dante über Marsilius von Padua bis hin zu Nikolaus von Kues wirken universalistische Vorstellungen fort.
 
Die historisch-politische Wirklichkeit des Abendlandes aber wurde von den aufsteigenden Nationalstaaten bestimmt, und mit dem Zerfall des universalen Geschichtsbildes ging ein allmählicher Wandel des historischen Denkens einher. In den Vordergrund trat die Geschichte der Einzelstaaten, und die Historiographie übernahm die Funktion, im Dienste der Juristen die Ansprüche des Staates zu legitimieren, sein Selbstverständnis historisch abzusichern.
 
 Humanismus und Aufklärung
 
Der Humanismus hat die Notwendigkeit des Rückgriffs auf die Quellen betont, sein Interesse war dabei aber ausschließlich auf die Antike gerichtet. Daraus resultierte die Gliederung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit, die durch den Hallenser Professor Christoph Cellarius (1638—1707) popularisiert wurde. Diese bis heute weithin maßgebende Dreiteilung beruht also auf dem Selbstverständnis einer Epoche, die die Antike als Ideal ansah und in der eigenen Zeit wieder zu beleben versuchte; der dazwischenliegenden Großepoche wurde jeglicher Eigenwert abgesprochen. Allerdings hat der methodische Ansatz der Humanisten, der konsequente Zugriff auf die Quellen, der in der Sammel- wie in der Editionstätigkeit zum Ausdruck kam, auch die Kirchen- und Nationalgeschichtsschreibung befruchtet; erinnert sei nur an die Wirkung, die die Wiederauffindung der »Germania« des Tacitus in Deutschland gehabt hat. Im Übrigen behauptete in der Konsequenz der Reformation die Kirchengeschichtsschreibung einen gewichtigen Platz; sie trat ganz in den Dienst konfessioneller Polemik.
 
Der Verabsolutierung der Staatsgeschichte setzte die Philosophie der Aufklärung die Betonung der kulturellen Schöpfungen des Menschen entgegen; sie verstand Geschichte vor allem als Kulturgeschichte. Unter Verzicht auf die Transzendenz bemüht sie sich um eine Deutung der historischen Zusammenhänge ohne Rückgriff auf die göttliche Vorsehung; die mittelalterliche heilsgeschichtlich-teleologische Sicht wird säkularisiert zum Glauben an den Fortschritt — Fortschritt der Menschheit in eine bessere Zukunft, und dies im Bereich der Vernunft, des Wissens und der Freiheit ebenso wie auf dem Felde der Technik und der Zivilisation oder später aus der Sicht des historischen Materialismus hin zur Überwindung der Selbstentfremdung des Menschen in der klassenlosen Gesellschaft. Als epochales Ereignis erscheint die Französische Revolution, die den Übergang in eine neue Zeit markiert. Bestimmend ist ein anthropologischer Optimismus, der Glaube an die unveränderlich gute Natur des Menschen, der zugleich den prognostischen Ausgriff der Historie in die Zukunft möglich erscheinen lässt. Das leitende Interesse an der Geschichte ist ein ethisch-utilitaristisches: Sie liefert die nützlichen Beispiele für die Moral und Politik und erweist sich damit tatsächlich als Lehrmeisterin des Lebens.
 
 Geschichte als Wissenschaft — Der Historismus
 
Mit der Etablierung der Geschichte als Wissenschaft begann die intensive Diskussion um die Klärung der Bedingungen historischer Erkenntnis. Sie wurde im 19. Jahrhundert entscheidend von der Auffassung eines grundlegenden Unterschiedes zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methode geprägt, den der Philosoph Wilhelm Windelband mit den Begriffen »nomothetisch« (Gesetze aufstellend) und »idiographisch« (das Einzelne beschreibend) kennzeichnete. Das Verstehen ist die zentrale Kategorie geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. Freilich sind in der Gegenwart die Grenzen fließend geworden; In den Naturwissenschaften ist die Vorstellung von Gesetzmäßigkeit problematisch geworden, die Geschichtsforschung ihrerseits beschränkt sich nicht darauf, menschliches Handeln in seinen Intentionen zu verstehen, sondern fragt auch nach überindividuellen Regelmäßigkeiten, sucht Strukturen aufzuweisen und tritt mit den auf Generalisierung ausgerichteten Sozialwissenschaften in eine fruchtbare Methodendiskussion ein. Theodor Schieder hat bei aller Betonung der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit historischer Geschehnisse und Erscheinungen die Notwendigkeit und Möglichkeit der Typenbildung herausgestellt und dabei Strukturtypen (z. B. Staatsformen) und Verlaufstypen (z. B. revolutionäre Bewegungen) sowie, allerdings mit Vorbehalt, Gestalttypen (z. B. den Feldherrn) unterschieden.
 
Die neuen Fragestellungen der Gegenwart haben sich nicht zuletzt aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Historismus ergeben, der selbst eine glanzvolle Epoche deutscher Geschichtswissenschaft repräsentiert. Mit der Definition der historischen Erkenntnis als Verstehen und der Betonung der Individualität wandte sich der Historismus gegen die von der Aufklärung vertretenen Generalisierungstendenzen und ihre Orientierung an der einen Vernunft. Für Ranke ist jede Epoche »unmittelbar zu Gott«, und es ist nicht Aufgabe des Historikers, »die Vergangenheit zu richten«, sondern »zu zeigen, wie es eigentlich gewesen« ist. Im Zentrum aller seiner Bemühungen stehen der Mensch und sein Handeln. Jacob Burckhardt hat das so formuliert, dass alle historische Forschung auszugehen hat von dem »einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird«. Er setzt also eine Konstanz der menschlichen Natur voraus, die im Übrigen die Bedingung der Möglichkeit des forschenden Verstehens ist, insofern der Historiker selbst als Mensch denkt und handelt. Dabei sind die handelnden Personen in eine bestimmte Epoche gestellt, von deren Wirklichkeit und Besonderheit der Historiker bei seinen Deutungsversuchen nicht absehen kann. Sein erkenntnisleitendes Interesse ist wesentlich von seinen eigenen, gegenwärtigen Erfahrungen und Vorstellungen bestimmt, von denen er jedoch abstrahieren muss, wenn er die Wirklichkeit des Vergangenen nicht verfehlen will. In welchem Umfang und in welcher Dichte aber Vergangenheit rekonstruiert werden kann, hängt vor allem von den Quellen ab, die dem Historiker zur Verfügung stehen.
 
Die Kategorie der Individualität ist vom Historismus ausgeweitet worden auch auf die Geschichte der Staaten, Völker und Nationen. Für Ranke barg »die Menschheit eine unendliche Mannigfaltigkeit von Entwicklungen« in sich. Es kommt nicht von ungefähr, dass er neben seinen Werken zur preußisch-deutschen und zur Papstgeschichte auch eine französische und eine englische sowie eine Weltgeschichte verfasst hat. Die theoretischen Grundpositionen des Historismus haben ohne Zweifel für eine gewaltige Ausweitung des Geschichtsbildes gesorgt.
 
 Kritik und Überwindung des Historismus
 
Die Kritik setzte an der konservativen Grundhaltung des Historismus an und erhob den Vorwurf, dass er das Bestehende — sei es nun der Nationalstaat oder seien es die großen politisch-geistigen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts wie Nationalismus, Imperialismus, Sozialismus, Demokratie — rechtfertige und zu legitimieren suche. Sie machte darüber hinaus geltend, dass der Primat der Außenpolitik weite Bereiche der historischen Wirklichkeit ausgeklammert und die Auswahl der Quellen einen Zugang zu kollektivem Verhalten und Denken verhindert habe. Ins Zentrum der Kritik aber rückte der Begriff des Verstehens, und zwar zunächst unter einem moralischen Aspekt. Wenn ein historisches Phänomen aus seinem geschichtlichen Kontext gedeutet und in seiner geschichtlichen Bedingtheit gesehen werden muss, besteht sicherlich die Gefahr, die Werteordnung und damit die Verantwortlichkeit des Einzelnen zu relativieren, etwa in dem Sinne, dass alles verstehen auch alles verzeihen bedeutet. Die letzte Konsequenz wäre ein ethischer Nihilismus. Theodor Schieder hat dagegen geltend gemacht, dass die führenden Denker des Historismus selbst diese Folgerung im Allgemeinen nicht gezogen haben. Gleichwohl sind hier nun grundsätzliche Fragen nach den Prinzipien der hermeneutischen Methode aufgeworfen, die bis heute hin intensiv diskutiert werden: das Problem der Subjektivität, die Frage nach der historischen Wahrheit, die Bedingungen der Möglichkeit von Werturteilen. Historische Forschung steht immer in der Spannung zwischen dem objektiv Vorgegebenen, das heißt der Gesamtheit des vergangenen Geschehens, und dem subjektiven Zugriff des Historikers auf das geschichtliche Material. Die Vergangenheit ist nicht in ihrer Totalität darstellbar; erst indem der Historiker ihn thematisiert, wird der Stoff verfügbar. Rankes Ausspruch: »Ich wünschte, mein Selbst gleichsam auslöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen« verdeutlicht das Dilemma: Der Wunsch ist nicht erfüllbar. Vom Historiker ist Deutung verlangt. Indem er auswählt, bringt er sein eigenes, persönliches Interesse zum Ausdruck, indem er den Stoff unter bestimmten Kriterien ordnet, vollzieht er bereits einen Akt der Interpretation. Er hat es stets mit der Zeit zu tun, aber historische Zeit ist nicht gleichzusetzen mit messbarer naturaler Zeit, da gestaltendes menschliches Handeln mit eingebracht wird. Die Gliederung des Geschichtsablaufs nach Epochen ist bereits ein Akt der Sinngebung, der sich auf historisches Urteilen und Werten gründet und letztlich voraussetzt, dass der Historiker eine Vorstellung vom Gesamtablauf der Geschichte hat. Indem er Sinnzusammenhänge aufweist, von denen her das Einzelgeschehen erst verständlich wird, schafft er recht eigentlich Geschichte.
 
Das historische Urteil hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut der Historiker die historisch-kritische Methode, die Auffindung, Analyse und Kritik der Quellen sowie ihre Verknüpfung und die Ergänzung der Überlieferung durch Vergleich und Analogieschlüsse, beherrscht. Damit stellt sich die Frage nach der Objektivität historischen Urteilens. Absolute Wahrheit ist nicht zu erlangen; jede historische Erkenntnis ist selektiv und perspektivisch; jede Deutung arbeitet mit Theorien. Selbst Sprache und Begriffe des Historikers sind von Theorien bestimmt. Soll sich der Historiker der in den Quellen verwandten Begriffe bedienen? Natürlich ist die Übertragung des Begriffes »Staat« auf mittelalterliche Verhältnisse problematisch, weil unser Verständnis geprägt ist von der Wirklichkeit des modernen Staates, aber der Historiker kann auf die Verwendung moderner Begriffe nicht verzichten, wenn er sich verständlich machen will; er muss sie aber erklären.
 
Perspektivität des Urteils darf nicht mit Parteilichkeit verwechselt werden; unterschiedliche Auffassungen sind legitim, wenn sie von dem Bemühen um Objektivität getragen werden. Theorien haben sich im wissenschaftlichen Diskurs zu bewähren; der Historiker hat die Prämissen seines Urteils aufzudecken und damit überprüfbar zu machen. Bei aller Vorläufigkeit und Unvollkommenheit erscheint doch von unterschiedlichen Standpunkten her die Annäherung an die Wahrheit möglich. Dass in dieser Sicht Geschichte immer wieder neu geschrieben werden muss, hat bereits Goethe in unnachahmlicher Weise begründet: »Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt« (Farbenlehre, Hamburger Ausgabe 14, 93).
 
 Geschichtswissenschaft heute
 
Nach dem großartigen Aufschwung im Zeichen des Historismus, dem das geschichtliche Wissen einen zentralen Platz im Bildungssystem verdankte, wurde die Geschichtswissenschaft in die durch den Nationalsozialismus verursachte Katastrophe der deutschen Geschichte mit hineingerissen. Der Bruch mit der Vergangenheit schien unheilbar; das historische Nachdenken kreiste um das Thema der »Kapitulation vor der Geschichte« (Hermann Heimpel) oder konstatierte den »Verlust der Geschichte« (Alfred Heuß). Für die Gestaltung der Gesellschaft und die Wegbereitung in die Zukunft konnte die Historie offenbar kaum etwas leisten, dazu schienen die Sozialwissenschaften, vor allem Soziologie und Politikwissenschaft, besser geeignet. Das Bild hat sich jedoch gewandelt, und dafür ist nicht nur das steigende Interesse an der Geschichte in der Öffentlichkeit ein Indiz. Die brennende Frage nach dem Sinn historischen Bemühens hat zu einer nüchternen Bestandsaufnahme der Aufgaben der Geschichtswissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Funktion geführt.
 
Aufgegeben wurde die naive Zuversicht, aus der Geschichte lernen zu können. Aber die unbezweifelbare Historizität des Menschen hat ihre Konsequenzen. »Je mehr Vergangenheit wir überblicken, desto mehr erfahren wir vom Menschen« (Reinhard Wittram). Unbestreitbar ragt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein; in ihrer Erforschung, in der Aufdeckung von Fehlentwicklungen und der Rechtfertigung bewahrenswerter Traditionen, dient die Historie einer Standortbestimmung in der Gegenwart. Sie stiftet Identität — eine Aufgabe, die nach den Umbrüchen von 1945 und 1989/90 gerade für das deutsche Volk von größter Bedeutung ist. Geschichte hat ferner die Funktion aufzuklären und das politische Urteilsvermögen zu schärfen. Historische Bildung macht vorsichtig und skeptisch, fähig zur Ideologiekritik und zur Entlarvung von Legenden und Mythen. Sie bietet damit eine Orientierungshilfe in der Gegenwart und für jeglichen Zukunftsentwurf, der sonst bloße Spekulation bleiben müsste. In dieser Sicht — und nicht als direkte Handlungsanweisung — behält die Formel von der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens ihren Sinn. Der Sachverhalt ist nicht besser als mit Jacob Burckhardts Diktum aus den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« zu umschreiben: »Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.«
 
Prof. Dr. Egon Boshof, Passau
 
 
Agulhon, Maurice: Der vagabundierende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1995.
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Universal-Lexikon. 2012.

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